Bielendorf in der
Grafschaft Glatz
(Schlesien)

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31. August 2016

Die Hochwasserkatastrophe in der Grafschaft Glatz (Ziemia Kłodzka) im Juli 1997

Ein Erlebnisbericht in Tagebuchform

Bielendorf (Bielice), den 7. Juli 1997 (Montag)
Es regnet heute den dritten Tag (seit Samstag Mittag) ununterbrochen und sindflutartig. Die Glatzer Biele (Biala Lądecka) ist von einem kleinen Rinnsal (bei unserer Ankunft am Freitagnachmittag) zu einem reißenden Strom voll braunen Wassers angeschwollen. Aus allen Richtungen fließt das Wasser von den Bergen am Haus vorbei.
Seit 5 Uhr ist der elektrische Strom abgeschaltet, wie man uns sagt in der gesamten Gemeinde Seitenberg (Stronie Śląskie) mit etwa 8000 Einwohnern. Seit 7 Uhr ist die Brücke am Wehr zum ehemaligen (deutschen) Elektrizitätswerk in Bielendorf (Bielice) nicht mehr passierbar, da die gesamte Fahrbahn am Brückenfundament unterspült ist. Damit ist die einzige Straßenverbindung vom heutigen "Oberdorf" von Bielendorf (Bielice) ins Tal und nach Seitenberg (Stronie Śląskie) abgeschnitten. Bereits seit gestern gibt es hier im Haus kein Leitungswasser, da wegen 1 m Hochwasser im Keller die Brunnenwasserpumpe abgestellt und geborgen werden mußte. Heute wäre die Pumpe aber wegen des Stromausfalls ohnehin außer Betrieb.
Nach der Besichtigung der beschädigten Straße haben wir die Urlauber aus Belgien im Ferienhaus der Familie Ma. besucht. Die Belgier berichten uns, der Nachbar (Herr U.) habe ihnen gesagt, es gäbe einen Waldweg, der ins Tal führt. Daher müsse man umgehend abreisen, ehe auch dieser unpassierbar werde. Ein Gespräch mit dem Förster (Herr Wr.) ergab, daß alle Waldwege wegen Unter- und Überspülungen sowie Erdrutsche bereits ebenfalls unpassierbar seien. Man müsse daher warten, bis das Hochwasser zurückgehe und die Straßen (notdürftig) repariert seien. Das könne aber drei bis vier Tage dauern.
Aufgrund der Straßensperrung gibt es heute im Geschäft auch kein frisches Brot zu kaufen. Der Nachschub von anderen Lebensmitteln und Artikeln des täglichen Bedarfes kann daher auch nicht eintreffen. Es können nur die Vorräte im Geschäft gekauft werden. Die Verkaufsmengen pro Familie sind bereits beschränkt.
Da man hier auf kürzere Stromausfälle eingerichtet ist, wird hier noch grundsätzlich auf dem mit Holz beheizten Ofen gekocht. Unsere Nahrungsmittelvorräte wurden noch einmal aus den Beständen des Geschäfts ergänzt. (Das Geschäft hat von Mo.-Fr. 10-12 Uhr und 15-16 Uhr geöffnet.) Natürlich sind auch alle Kühl- und Gefriergeräte ausgefallen.
Am anderen Ufer erhebt sich direkt ein Berghang. Nun ist dort sogar ein Erdrutsch zu erkennen. Steine, Erde und Bäume stürzen in den Fluß und werden mit Getöse und Gepolter davon gespült. Das Wasser kommt nun aus allen Richtungen in allen Gräben und auf allen Wegen von den Bergen gelaufen. Der Wasserstand im Fluß nimmt ständig weiter zu.
Ein Nachbar (Herr Kac.) hat neue Informationen erhalten. Er berichtet, daß fast ganz Seitenberg (Stronie Śląskie) unter Wasser stehe. In den Geschäften und Häusern stehe das Wasser einen halben Meter hoch. In Olbersdorf (Stojków) sei die Forstverwaltung evakuiert. In Bad Landeck (Lądek Zdrój) habe die Polizei die Zufahrtsstraße nach Seitenberg (Stronie Śląskie) wegen Hochwasser gesperrt. In Seitenberg (Stronie Śląskie) fließen viele Flüsse zusammen: Glatzer Biele (Biala Lądecka), Mohre (Morawa), Klessenbach und Mühlbach.
Alle Täler und Dörfer, die nur über Seitenberg (Stronie Śląskie) zu erreichen sind, können dadurch nicht mehr verlassen oder erreicht werden: Gompersdorf (Goszów), Alt- und Neugersdorf (Stary i Nowy Gierałtów), Bielendorf (Bielice) sowie Wilhelmsthal (Boleslawów), Alt- und Neu-Mohrau (Stara i Nowa Morawa), Kammnitz (Kamienica) und Klessengrund (Kletno) sind von der Außenwelt abgeschnitten.
Beim erneuten Einkauf am Nachmittag mußten wir feststellen, daß bereits erste Nahrungsmittel (Milch, Obst und Gemüse) ausverkauft sind. Ebenso kann man auch kein Bier mehr kaufen.
Der Nachbar (Herr Kac.) kommt noch einmal zu uns. Er hat mit einem batteriebtriebenen Gerät (Radio oder TV) Nachrichten empfangen. Er berichtet, daß die Hochwasserwelle weiter zu Tal geflossen sei. Das Hochwasser habe Bad Landeck (Lądek Zdrój) sowie alle Dörfer zwischen Bad Landeck (Lądek Zdrój) und Glatz (Kłodzko) überflutet. In Ullersdorf/Biele (Oldrzychowice) und Eisersdorf (Zelazno) habe man Bewohner von den Dächern ihrer Häuser mit dem Helikopter retten müssen. Alle Einwohner dieser Dörfer seien evakuiert. Auch in Glatz (Kłodzko) sei an der Glatzer Neiße (Nysa Kłodzka) starkes Hochwasser. In Seitenberg (Stronie Śląskie) sei ein Mann in die Biele gestürzt und mitgerissen worden als eine Brücke einstürzte.
Für die Bezirke (Wojewodztwo) Krakau (Kraków), Oppeln (Opole) und Waldenburg (Walbrzych) sei Katastrophenalarm ausgelöst worden. Im Bezirk Waldenburg (Walbrzych) seien das Unwetter und das Hochwasser in Seitenberg (Stronie Śląskie) und Mittelwalde (Miedzylesie) am schlimmsten. Der zuständige Minister sei aus Warschau (Warszawa) in das Katastrophengebiet gekommen, um die Katastrophe zu besichtigen und Hilfsmaßnahmen einzuleiten.
Am Abend werden im Geschäft alle Vorräte an Speiseeis verschenkt, da die Gefriergeräte seit 5 Uhr nicht mehr arbeiten. Im Geschäft werden jetzt auch die letzten Kerzen verkauft, da man nach Einbruch der Dunkelheit noch etwas Licht haben möchte.

Bielendorf (Bielice), den 8. Juli 1997 (Dienstag)
Heute hat es von 6-8 Uhr zum ersten Mal seit drei Tagen nicht geregnet. Seit 8 Uhr wechseln sich lange Regenschauer mit kurzen, trockenen Perioden ab.
Aus Altgersdorf (Stary Gierałtów) kommt Besuch. Die Besucher sagen, daß sie die 8 km zu Fuß zurücklegen mußten, da die Straße in Neugersdorf (Nowy Gierałtów) wegen Unterspülung unpassierbar sei. Die Wanderherberge (Chata Cyborga) der Familie Li. (früher: "Linden"-Hannig) sei in das Haus der Baptisten (früher: Peiker) evakuiert, da das Haus unterspült worden sei. Der Weg zur Hütte (Chata Tarapety) von Familie Ja. (früher: Wenzel-Graben) sei ebenfalls wegen Unterspülung unpassierbar.
In den Geschäften in Alt- und Neugersdorf (Stary i Nowy Gierałtów) sei sämtliche Ware ausverkauft. Die zeltenden Jugendgruppen zwischen Bielendorf (Bielice) und Neugersdorf (Nowy Gierałtów) seien angeblich mit dem Helikopter evakuiert worden, da ein Nahrungsmittelengpaß bestehe.
Im Geschäft in Bielendorf (Bielice) werden die Restbestände nur noch rationiert verkauft. Nun sind auch Nudeln, Marmelade und Konserven ausverkauft. Wir werden von Urlaubern aus Posen (Poznan) angesprochen, ob wir ein Funktelefon hätten. Wir erklären, daß D-Netz-Funktelefone hier noch nicht funktionieren. Die Urlauber hätten bei Familie Li. gewohnt und seien ins heutige Sägewerk der Familie M. evakuiert worden. Sie hätten erfahren, daß die Straße nach Seitenberg (Stronie Śląskie) zwei Wochen nicht passierbar sei. Sie müßten daher Kontakt mit ihrer Familie aufnehmen. Wir erklären, daß dies auch unser Wunsch sei.
Ein Spaziergang durch Bielendorf (Bielice) zeigt uns die Hochwasserschäden im Ort: Außer dem Schaden an der Brücke ist in Höhe des Sägewerkes der Familie M. die Fahrbahn auf 10 m Länge und 0,5 m Breite abgerutscht. An der Brücke zum Schäfergraben (früher Wenzel-Graben) zum Haus der Familie Ja. (Chata Tarapety) hat das Wasser ein großes Loch in den Weg gespült. Das Haus der Familie Li. (Chata Cyborga) ist tatsächlich mehrere Meter weit von der Biele (Biala Lądecka) unterspült, ebenso wie der Weg hinter ihrer Brücke. Das Haus droht noch einzustürzen.
Auf dem Rückweg informieren wir die Urlauber aus Belgien über den Zustand im Tal der Glatzer Biele (Biala Lądecka). Sie sind besorgt über die Situation (Rückreise, Nahrungsmittelmangel).
Seit heute Nachmittag sind die 60 Kinder, die mit ihren Betreuern in der Hölle zwischen Bielendorf (Bielice) und Neugersdorf (Nowy Gierałtów) zelteten und angeblich mit dem Helikopter evakuiert worden seien, in die Försterei des Herrn Wr. evakuiert. Wir haben mit dem 13-jährigen Simon Kontakt aufgenommen, der nach einem dreijährigen Aufenthalt in Nürnberg gut deutsch spricht. Simon berichtet, daß die Kinder aus der Region Oppeln (Opole) stammen.

Bielendorf (Bielice), den 9. Juli 1997 (Mittwoch)
Heute gibt es wieder etwas Brot zu kaufen. Wie es hier her transportiert wurde, können wir nicht in Erfahrung bringen. Im Geschäft sind alle Einwohner und Urlauber aus Bielendorf (Bielice) zusammen gekommen. Jede Familie kann zwei bis drei Brote erwerben. Der Verkaufspreis für ein Brot ist aber um etwa 12 % gestiegen. Auch Mehl und Zigaretten (!) sind heute ausverkauft.
Wir haben uns entschlossen, die Familie Kal. in Neugersdorf (Nowy Gierałtów) heute zu Fuß zu besuchen, da die Straße mehrfach unpassierbar ist. Frau Kalinska verkauft Ziegenmilch und -käse. Herr Kal. ist Ortsbürgermeister (Soltys) von Neugersdorf (Nowy Gierałtów) und Bielendorf (Bielice). Die Tochter Agnes (Agnieska) studiert an der Universität in Breslau (Wroclaw) Germanistik. Wir hatten Familie Kal. bereits am Samstag und Sonntag mit dem Auto besucht, um uns über Gersdorf (Gierałtów) und Bielendorf (Bielice) und die Geschichte zu unterhalten. Unseren für Montagnachmittag vereinbarten Termin konnten wir hochwasserbedingt nicht wahrnehmen.
In Neugersdorf (Nowy Gierałtów) sind in einer Kurve 30 m Fahrbahn komplett weggespült worden. Einige kleine Fahrzeuge müssen am Fahrbahnrand höchst riskant daran vorbei gefahren sein.
Nach 6 km und 1 ¼ Stunden Fußweg treffen wir bei den Kal.s ein und werden herzlichst begrüßt. Dorthin sind ebenfalls etwa 30 Kinder untergekommen. Herr Kal. fährt fort, um zu versuchen, die Eltern der Kinder über die Situation zu informieren. Normale Telefone funktionieren aber weit und breit nicht. Frau Kalinska und ihre Tochter setzen uns über das Ausmaß der Hochwasserkatastrophe in Kenntnis: Häuser und Geschäfte sollen in Seitenberg (Stronie Śląskie) an den Flüssen bis in das erste Stockwerk überflutet gewesen sein, ebenso auch in Bad Landeck (Lądek Zdrój). In Glatz (Kłodzko) soll der Schaden inzwischen am größten sein: Das Hochwasser habe bis in das zweite Stockwerk gereicht. Mittelwalde (Miedzylesie) und Wartha (Bardo) seien auch schwerstens beschädigt.
Von Oberschlesien (Góra Sląska) aus bewege sich eine riesige Flutwelle ins Flachland. Ratibor (Racibórz) sei bereits überflutet. Aus der Grafschaft Glatz (Ziemia Kłodzka) sei eine Flutwelle über Ottmachau (Otmuchów) und Neiße (Nysa) geflossen und habe alles überschwemmt. In der Nähe von Oppeln (Opole) würden sich beide Flutwellen in der Oder (Odra) vereinigen. Oppeln (Opole) sei bereits stark gefährdet.
Für Freitag werde die große Flutwelle mit 6 bis 9 Metern Höhe in Breslau (Wroclaw) erwartet. Dort bereite man sich schon darauf vor. Man vermute, daß dies das Jahrhundert-Hochwasser oder vielleicht auch das schlimmste Hochwasser sei mehreren Jahrhunderten sei.
Wir vereinbaren dann, daß wir Dokumente und alte Fotos nach unserer Rückreise in Deutschland kopieren und Familie Kal. per Post übersenden. Dafür erhalten wir zwei Liter frische Ziegenmilch, 500 g Ziegenkäse, ein paar Zwiebeln und Gurken geschenkt. Es wird uns auch angeboten, im Notfall Lebensmittel für uns zu besorgen. An der abgerutschten Fahrbahn treffen wir einen polnischen Ingenieur, der deutsch spricht. Er erzählt uns, es gäbe von Seitenberg (Stronie Śląskie) und Bad Landeck (Lądek Zdrój) keine Straßenverbindungen mehr nach Glatz (Kłodzko) und Habelschwerdt (Bystrzyca Kłodzka). Der Rückweg nach Bielendorf (Bielice) dauert aufgrund der kontinuierlichen Steigung des Weges (etwa 150 m Höhenunterschied) 1 ¾ Stunden.
Am Abend trifft an der Försterei in Bielendorf (Bielice) ein Geländewagen aus Oppeln (Opole) ein. Der Wagen gehört zur evakuierten Jugendgruppe. Der Fahrer bringt unter anderem auch Lebensmittel mit. Es wird ein Brief an die Eltern der Kinder geschrieben und von allen Kindern und Betreuern unterschrieben. Der Fahrer wolle den Brief am nächsten Morgen aus dem Katastrophengebiet nach Oppeln (Opole) bringen. Wir fragen den Fahrer, ob er dann für uns eine Postkarte nach Deutschland bis zum nächsten Postamt mit Postverkehr mitnimmt. Er erklärt sich dazu selbstverständlich bereit.
Wir schreiben schnell je eine Karte an unsere Nachbarn zu Hause und an den "Grafschafter Boten" nach Lüdenscheid, um über unsere ungewisse Situation Informationen weiterzuleiten. Anschließend bringen wir den belgischen Urlaubern eine frankierte Postkarte, um ihnen ebenfalls die Möglichkeit für eine Nachricht in ihrer Heimat zu geben. Die Belgier freuen sich darüber riesig und schreiben auch schnell ihre Karte.
Schließlich bringen wir die Karten rasch dem Geländewagen-Fahrer. Der Fahrer verspricht uns, die Karten am nächsten Tag abzusenden. Wir werden noch kurz auf ein Getränk eingeladen.

Bielendorf (Bielice), den 10. Juli 1997 (Donnerstag)
Die 60 evakuierten Kinder beziehen heute wieder ihr Zeltlager in der Hölle. Eine Rückreise ins überflutete Oppeln (Opole) sei für sie unmöglich.
Heute Vormittag wird uns berichtet, die Brücke in Bielendorf (Bielice) sei jetzt provisorisch repariert. Die Brücke könne mit Personenwagen bis zwei Meter Breite und zwei Tonnen Gewicht befahren werden. Dieses Provisorium sei aber nur bis zum nächsten Tag passierbar. Dann werde mit einer mehrmonatigen Reparatur begonnen. An der abgerutschten Fahrbahn in Neugersdorf (Nowy Gierałtów) sei eine provisorische Umleitung eingerichtet worden. Daher müßten alle Urlauber aus dem heutigen Oberdorf morgen abreisen.
Ich beschließe, die Brücke zunächst zu besichtigen und auf dem Rückweg die Belgier zu benachrichtigen. Als ich zu Fuß an der Brücke eintreffe, begegne ich dort dem Nachbar (Herr Kac.). Der Nachbar erzählt mir, er habe die provisorische Reparatur der Brücke samt Straße vorangetrieben. Er zeigt mir, daß das Brückenfundament irreparabel beschädigt sei. Die Brücke ist aber zunächst tatsächlich für unser Fahrzeug befahrbar. Ich frage, ob die Umleitung in Neugersdorf (Nowy Gierałtów) ebenfalls für uns befahrbar sei. Der Nachbar bejaht dies und schlägt mir aufgrund meiner Skepsis vor, daß er mir diese Stelle mit seinem 40 Jahre altem russischen Geländewagen zeige. Ich willige ein, und wir fahren die 5 km dorthin.
Unterwegs kann ich nochmals alle Schäden sehen. In Neugersdorf (Nowy Gierałtów) sehe ich, daß man langsam die provisorische Umleitung befahren kann. Der Nachbar erzählt mir auf der Rückfahrt, er habe gehört, daß man über Reichenstein (Zloty Stok) die Grafschaft Glatz (Ziemia Kłodzka) verlassen könne. Wir sollen es ruhig versuchen, einen Weg aus dem Katastrophengebiet zu finden.
Auf dem Rückweg will ich den Belgiern davon berichten. Ich lasse den Wagen am Ferienhaus der Familie Ma. stoppen und bedanke mich für die Fahrt. Die Belgier treffe ich jedoch nicht an. Ich erfahre, daß sie einen Waldspaziergang machen. Als die Belgier vom Spaziergang zurück kommen, kann ich sie endlich über alle Neuigkeiten informieren. Wir vereinbaren, am nächsten Morgen zwischen 7 und 8 Uhr gemeinsam abzureisen. Die Belgier eilen ins Ferienhaus, um beim letzten Tageslicht ihr Gepäck zu packen. Auch wir packen alles ein.
Eine Stunde später kommt der Belgier aufgeregt zu uns geeilt, um uns zu berichten, daß Familie Ma. gerade, bereits drei Tage früher als geplant eingetroffen, sei. Die Ma.s hätten gesagt, man solle lieber noch drei bis vier Tage mit der Rückreise warten, bis das Hochwasser abgelaufen sei. Wir vereinbaren, später mit Familie Ma. zu sprechen. Wir beabsichtigen jedoch noch immer, am nächsten Tage abzureisen.
Das Gespräch mit Herrn Lech Ma. ergibt, daß Familie Ma. bei einem Bekannten in Jauer (Jawor) zu Besuch war. Sie seien über Schweidnitz (Swidnica), Frankenstein (Zabkowice Śląskie), Münsterberg (Ziebice), Ottmachau (Otmuchów), Reichenstein (Zloty Stok) und Bad Landeck (Lądek Zdrój) hier her gefahren. Man könne unterwegs nur wenige Straßen und Brücken passieren. Es seien viele Brücken beschädigt oder zerstört und etliche Straßen gesperrt. Überall sei Militär und Polizei unterwegs, die den Verkehr leiten und aufrecht erhalten. Wenn man fahre, müsse man desöfteren Fragen, welche Straßen noch passierbar sind. Familie Ma. wolle jetzt in Bielendorf (Bielice) bleiben. Die belgischen Urlauber sollten noch mit der Abreise warten.
Herr Ma. habe unterwegs drei Tageszeitungen mit Bildern der Katastrophe gekauft. Ein Exemplar erhalten wir geschenkt. Wir halten unser Angebot aufrecht, zusammen mit den belgischen Urlaubern am nächsten Morgen abzureisen. Herr Ma. wolle am Abend noch nach Seitenberg (Stronie Śląskie) fahren, um sich über die Verkehrssituation im Bieletal in den nächsten Tagen zu informieren. Er wolle uns dann davon Nachricht geben.
Herr Ma. berichtet uns dann, er wäre bei Herrn Kal. gewesen. Dort habe er erfahren, daß die derzeitigen provisorischen Straßenverbindungen vorübergehend bestehen bleiben. Man müsse in Bielendorf (Bielice) zunächst eine neue Brücke bauen und können erst dann die alte beschädigte Brücke abreißen. Ebenso sei die Situation in Neugersdorf (Nowy Gierałtów). Man könne sich mit der Abreise daher Zeit lassen. Dies würden die Urlauber aus Belgien beabsichtigen. Die gesamte Familie Ma. kommt dann auch zu uns, um uns zu begrüßen. Darauf kommt auch die belgische Urlauberfamilie, um uns zu verabschieden und uns eine gute Reise zu wünschen.

Bielendorf (Bielice), den 11. Juli 1997 (Freitag)
Nach einem kurzen, appetitlosen Frühstück verabschieden wir uns von unseren Gastgebern, um die Heimreise anzutreten. Es wird uns eine gute Fahrt gewünscht. Wir seien jederzeit hier wieder herzlich willkommen. Kurz vor 8 Uhr beginnen wir unsere Rückreise.
Im Radio haben wir gehört, daß das erste Hochwasser gegen 6 Uhr in Breslau (Wroclaw) eingetroffen sei. Ganz Breslau (Wroclaw) sei in Aufregung.
Wir passieren sehr langsam die provisorischen Straßenreparaturstellen in Bielendorf (Bielice) und Neugersdorf (Nowy Gierałtów).
Bei der Familie Kal. in Neugersdorf (Nowy Gierałtów) halten wir kurz an, um uns von ihnen zu verabschieden. Auch dort wird uns eine gute Reise gewünscht. Wir werden gebeten, bald einmal zu schreiben, wie wir nach Hause gekommen sind. Man könne doch nicht hierher telefonieren.
In Altgersdorf (Stary Gierałtów) ist die Fahrbahn ebenfalls halbseitig samt einer Brücke abgerutscht. Auch in Gompersdorf (Goszów) ist dies der Fall. Wir sehen erste beschädigte Häuser. In Seitenberg (Stronie Śląskie) erblicken wir ein riesiges Chaos von zerstörten Häusern, Straßen und Brücken. An der einzigen Tankstelle steht eine lange Schlange von Fahrzeugen. Am Ufer der Biele (Biala Lądecka) sind ganze Häuser vollständig zerstört. Manche Brücken sind komplett eingestrüzt oder weggespült. In den Häusern hat das Hochwasser etwa bis zu zwei Meter hoch gestanden. Überall sind Fensterscheiben zerstört. Der Unrat, der vom Wasser mitgespült wurde, ist in den Häusern zurückgeblieben, nachdem das Hochwasser abgeflossen ist. Es zeigt sich uns ein Bild der Verwüstung.
In Olbersdorf (Stojków) ist ebenfalls die halbe Straße abgespült. Die übrige Fahrbahn muß stark überflutet gewesen sein. Überall liegt der Schlamm auf der Straße. Die Fahrbahn ist einspurig vom größten Schlamm gereinigt worden. Auch hier sind Häuser zerstört, Gärten und Wiesen überflutet gewesen und mit einer Schlammschicht überzogen.
Im Bad der Stadt Bad Landeck (Lądek Zdrój) zeigt sich ein ähnliches Bild. Holzhütten am Ufer der Biele (Biala Lądecka) sind fortgespült worden. Auch hier wurden ufernahe Häuser zerstört und die Straße mit Schlammlawinen überspült. Hier ist ebenfalls nur eine Fahrbahnseite gereinigt worden. Auf vielen Straßen fließt noch immer Wasser von den Bergen. Als wir die Stadt erreichen verschlimmert sich der Anblick der Verwüstung. Nur die große polnische Betonbrücke und die alte, deutsche Johannes-Brücke sind unbeschädigt geblieben. Mauern von Häusern sind eingestürzt und haben riesige Wassermassen durch die Häuser fließen lassen. Auch hier bleibt der mitgespülte Unrat liegen. Teilweise reicht der Wasserstand offensichtlich bis ins zweite Stockwerk. Wir fahren in Richtung Reichenstein (Zloty Stok) und müssen teilweise etliche Meter über die provisorisch mit Schotter instandgesetzte Uferstraße fahren. Die Schäden ziehen sich entlang der Biele (Biala Lądecka) immer weiter hin. Die Straße nach Glatz (Kłodzko) ist bereits hier gesperrt. Das frühere Nieder-Thalheim (heute zu Bad Landeck gehörig) ist scheinbar vollständig zerstört. Dort sind auch zerstörte Autowracks zu erkennen.
Die Straße über das Reichensteiner Gebirge (Góry Zlote) muß ebenfalls stellenweise vom herabfließenden Wasser überspült gewesen sein. Die einzige befahrbare Straße aus dem hochgelegenen Reichenstein (Zloty Stok) heraus führt nach Ottmachau (Otmuchów). Auch hier ist die Innenstadt teilweise zerstört. Nur wenige Brücken, darunter die meisten alten deutschen Brücken, sind noch befahrbar. Von hieraus müssen wir eine große Umleitung über halbseitig befahrbare Straßen über den Ort Münsterberg (Ziebice) nach Frankenstein (Zabkowice Śląskie) fahren, da auch Kamenz (Kamieniec Zabkowski) nicht durchfahren werden kann. In Frankenstein (Zabkowice Śląskie) sind die letzten großen Überschwemmungen sichtbar.
Wir fahren über Schweidnitz (Swidnica) und Liegnitz (Legnica) zur Grenze. Unterwegs sehen wir viele Flüsse die auch mehr Wasser als normal führen. Der Verkehr in Richtung Deutschland ist ausgesprochen ruhig. Nach langer Fahrt erreichen wir den Grenzübergang Forst/Olszyna.
Nach nur zehnminütiger Wartezeit sind wir an der polnischen Abfertigung. Der Beamte staunt über unser beladenes Fahrzeug und will in den Kofferraum sehen. Ich erkläre ihm, daß wir aus dem Hochwasser-Katastrophengebiet kommen und alles, was wir mitgebracht hätten, wieder mitnehmen müßten.
Die 10 Meter weiter stehenden vier deutschen Grenz- und Zollbeamten sind ebenfalls über unser beladenes Fahrzeug überrascht. Nach kurzem Gespräch über unseren abgebrochenen Urlaub und die Hochwasser-Katastrophe verneine ich die Frage, ob wir Waren zu verzollen hätten. Man erzählt uns, daß bisher nur wenige deutsche Urlauber zurückgereist seien. Man vermutet, daß nach viele Urlauber eingeschlossen sind. Die Beamten zeigen auch angesichts der wachsenden Fahrzeugschlange Verständnis, kontrollieren uns nicht weiter und wünschen uns noch eine gute Heimreise und viel Glück.
Nach guter Fahrt durch Brandenburg und über den Berliner Autobahn-Ring haben wir auf den letzten 100 km ab Magdeburg mit extrem starken Verkehrsaufkommen zu kämpfen. Für diese Strecke benötigen wir noch einmal drei Stunden.
Nach zwölf Stunden Fahrt (im Gegensatz zu acht Stunden auf der Hinreise) treffen wir viele Tage früher als geplant zu Hause ein. Wir werden von den Nachbarn begrüßt. Sie hatten schon befürchtet, daß wir von der Hochwasserkatastrophe betroffen seien. Einige Nachbarn stammen auch aus der Grafschaft Glatz (Ziemia Kłodzka). Sie sind über das Ausmaß der Katastrophe entsetzt, da sie nur wenig durch die deutschen Medien erfahren haben.
Zu Hause sehen wir im TV das Hochwasser in Breslau (Wroclaw). Die Vororte sind bereits überflutet. Die historische Altstadt ist stark gefährdet. Strom und Trinkwasser seien abgestellt worden.
Wir versuchen noch, nach Breslau (Wroclaw) zu telefonieren. Doch wir bekommen keinen Anschluß. In die Gemeinde Seitenberg (Stronie Śląskie) kann man auch nicht telefonieren, wie wir wissen. Man hört nur das Besetzt-Zeichen, wenn man eine Rufnummer in der Grafschaft Glatz (Ziemia Kłodzka) und in Breslau (Wroclaw) wählt. Zu unseren Bekannten in Liegnitz (Legnica) bekommen wir nach einigen Versuchen eine Leitung, doch offensichtlich sind sie aus Bielendorf (Bielice) noch nicht abgereist oder sind noch unterwegs.

Christian Drescher
Ortsberichterstatter von Bielendorf (Bielice)
im Juli 1997

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© Juli 1997 Christian Drescher

 

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Erste Version vom 27.01.2002, letzte Aktualisierung am 26.12.2006.

 

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